Neuigkeiten zu Weihnachten 2024
Der Kleine Nazareno/Manaus
Neben vielen anderen Tätigkeiten ist unsere Filiale vom Kleinen Nazareno/Manaus nun schon seit vier Jahren in Zusammenarbeit mit der dortigen Stadtverwaltung für die Begleitung von Kindern und Jugendlichen zuständig, die auf der Straße im ärmsten Stadtviertel von Manaus tagsüber kleine Dienstleistungen anbieten oder einfach betteln. „Ich könnte unzählige Ereignisse erzählen, von Kindern und Jugendlichen, die durch unsere Arbeit heute zur Schule gehen und einem Beruf nachgehen“, sagte Tommazo, Leiter des Kleinen Nazareno/Manaus, zu mir. Meine Entscheidung, über welche der Geschichten ich schreiben sollte, fiel schnell, als ich die von Vinicius hörte.
(Vinicius, direkt neben seiner Mutter stehend, bei der ersten Kontaktaufnahme)
Regiane, eine Sozialarbeiterin des Kleinen Nazareno, war gerade in ein Gespräch mit einer Gruppe von Kindern vertieft, die vor einer belebten Straßenkreuzung Autofahrer anbettelten, die an der roten Ampel hielten, als eine Frau namens Maria auf sie zukam und sie inständig um ein persönliches Gespräch bat.
Marias Geschichte ist ein Spiegelbild vieler Familienschicksale. Sie erzählte, dass ihr Ehemann jedes Mal, wenn er getrunken hatte, gewalttätig wurde. Als er anfing, nicht nur sie, sondern auch die Kinder zu schlagen, sah sie sich gezwungen, sich an die Polizei zu wenden. Leider vergebens, wie sie berichtete, denn ihr Ehemann hatte zu der Zeit keinen festen Wohnsitz und konnte auch in seiner Verwandtschaft nicht ausfindig gemacht werden. Aufgrund dieser Situation war sie mehrfach gezwungen, ihre Mietwohnung zu verlassen, und lebte in ständiger Angst, dass er sie auch bei der Arbeit aufspüren könnte.
Maria verkaufte zusammen mit ihren drei Söhnen und ihrer kleinen Tochter Gemüse und Früchte, um Essen und die Miete bezahlen zu können. Maria hatte Glück, denn das Nazareno-Team organisierte gerade die Wiedereröffnung des Berufsvorbereitungszentrums in Manaus, das wegen der Coronapandemie für ein paar Monate geschlossen gewesen war. Es war uns sofort möglich, Jonas, dem ältesten Sohn von Maria, und Vinicius ein bezahltes Praktikum beim Arbeitsministerium von Manaus zu vermitteln. Durch seine korrekte und professionelle Arbeitseinstellung fiel Vinicius einer dort tätigen Richterin auf. Sie fragte ihn, welchen Beruf er sich vorstellen könne, worauf er prompt antwortete: „Ich werde Rechtswissenschaft studieren, mit dem Ziel, Richter hier im Arbeitsministerium zu werden!“ Neben dem Praktikum strengte sich Vinicius in der Schule an und machte sein Abitur, als er gerade volljährig wurde.
Eine der bekanntesten privaten Universitäten in Manaus, die ein Jurastudium anbietet, ist die Universidade Nilton Lins, eine Eliteuniversität mit derzeit 15.000 Studentinnen und Studenten. Beim ersten Anlauf schaffte es Vinicius, die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Die Freude hielt jedoch nur kurz an, da die Studiengebühren bei umgerechnet 500 Euro im Monat liegen – eine völlig unerreichbare Summe für Vinicius und seine Mutter.
Er wäre an dieser finanziellen Hürde gescheitert, und sein Traum wäre niemals in Erfüllung gegangen, hätte sich die oben erwähnte Richterin nicht persönlich für ihn eingesetzt. Es war das erste Mal, dass die Universidade Nilton Lins dem Arbeitsministerium von Manaus für eine Person nach Wahl ein vollständiges Stipendium anbot.
Jetzt dürft ihr raten, wer auserwählt wurde! Richtig: unser Vinicius! Der Junge, der vor ein paar Jahren noch zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern Früchte und Gemüse auf der Straße verkaufte.
(Immatrikulierung an der privaten Universität in Manaus)
Seinem persönlichen Einsatz und unserer Unterstützung ist es zu verdanken, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach einen anderen Weg einschlagen wird als den seines Vaters. Es ist der Beginn eines völlig neuen Lebens – sowohl für seine Mutter und seine Geschwister als auch für seine zukünftige eigene Familie, wenn dieser Tag gekommen ist.
(Diesjährige Abschlussfeier der Jugendlichen des Berufsvorbereitungszentrums/Manaus)
In diesem Jahr nahmen 150 Jugendliche am berufsvorbereitenden Unterricht teil, der wöchentlich in unserem Zentrum in Manaus stattfindet. Herzlichen Dank an euch vom Kleinen Nazareno in Manaus für euren großartigen Einsatz. Wir freuen uns, euch mit im „Boot“ zu haben!
Der Kleine Nazareno/Fortaleza:
Erstmalige wöchentliche Zusammenarbeit mit dem Sozialamt zur Ausstellung fehlender persönlicher Dokumente für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in den Armensiedlungen.
Dabei suchen wir stets nach einem Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit, mit möglichst vielen Kindern, Jugendlichen und Familien in den Armensiedlungen von Fortaleza in Kontakt zu treten, und der Zeit, die erforderlich ist, um konkrete Hilfsmaßnahmen einzuleiten. Eine der zahlreichen Maßnahmen besteht in der Unterstützung bei der Beschaffung fehlender persönlicher Dokumente.
Diese fundamentale Initiative des Kleinen Nazareno war bisher mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden, bis das zuständige Sozialamt uns kürzlich eine Zusammenarbeit angeboten hat. Vor allem im Hinblick darauf, dass wir in ständigem Kontakt mit Familien stehen, die in diesen Armensiedlungen oft völlig allein gelassen werden und auf sich selbst gestellt sind, ist diese Unterstützung von großem Wert.
Einmal in der Woche stellt uns das Sozialamt eine Gruppe von fünf Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern zur Verfügung, um die jeweiligen Anträge individuell zu bearbeiten. Darüber hinaus stellt die Stadt uns einen Kleinbus mit zehn Sitzplätzen sowie einen Fahrer bereit, um betroffene Familien einmal wöchentlich vor Ort abzuholen. Da viele der Armensiedlungen, in denen wir arbeiten, schwer mit dem Auto erreichbar sind und oft keine Straßennamen oder Hausnummern besitzen, werden diese Gruppen von einem Mitglied unseres Teams begleitet.
Innerhalb eines Jahres werden wir allein durch diese Initiative 500 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus den Armenvierteln konkrete Unterstützung anbieten können.
Hilfe für die Familien, die in Notunterkünften hausen!
Natürlich ist unsere Arbeit nicht ungefährlich, und es ist offensichtlich, dass wir auf Schritt und Tritt von kriminellen und landesweit agierenden Drogenkartellen beobachtet werden. Doch Tatsache ist auch, dass die überwiegende Mehrheit der Familien in den extrem armen Vierteln, in denen der Kleine Nazareno tätig ist, aus Menschen besteht, die selbst unter schwierigsten Lebensumständen versuchen, ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder auf ehrliche Weise zu gestalten.
Eines dieser Armenviertel heißt „Vista para o Mar“, was übersetzt „Meeresblick“ bedeutet.
(Besuch in der Armensiedlung „Meeresblick“)
In der Nähe eines etwas abgelegenen Strandes in Fortaleza leben etwa 150 Familien in Notquartieren, die aus dem Sandboden gestampft wurden. In vielen Hütten gibt es weder Strom noch fließendes Wasser, geschweige denn Toiletten, und die Lebensbedingungen sind schlicht katastrophal. Niemand hat sich ausgesucht, hier zu leben.
Eines dieser Hütten wird von Betina bewohnt. Sie ist alleinerziehende Mutter und lebt hier zusammen mit ihrem dreijährigen Sohn Vitor. Alles ist sehr spärlich, doch ihre Baracke, die sie in zwei Räume unterteilt hat, ist dennoch picobello aufgeräumt. Sie hat zwar keine Toilette, aber Strom und fließendes Wasser.
In einem kleinen Bereich direkt am Eingang hat sie ein einfaches „Nagelstudio“ eingerichtet, das aus einem Hocker und einem leeren Regal besteht. Ihre Kundinnen stammen ausschließlich aus der Armensiedlung, weshalb sie oft den ganzen Tag vergeblich auf Kundschaft wartet.
(Betina beim Waschen und Saubermachen)
Es ist für mich kaum nachvollziehbar und verstörend zu sehen, wie nur ein paar wenige Initiativen ausreichen, um Menschen wie Betina eine völlig neue Lebensperspektive zu ermöglichen. Sie möchte eine Abendschule besuchen, um auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur nachzuholen, und halbtags arbeiten. Ein guter Plan!
An diesem Punkt unseres Gesprächs konnte ich ihr gute Nachrichten überbringen: Gemeinsam mit ihr würden wir uns um die Beschaffung ihrer persönlichen Dokumente kümmern. (Durch die kaputten Asbestdachplatten war der ganze Regen Anfang des Jahres direkt in ihre Hütte geströmt und hatte ihre persönlichen Unterlagen unbrauchbar gemacht.) Und, vor allem, wir könnten ihr eine Halbtagsstelle vermitteln. Damit hätte sie die Möglichkeit, Anfang nächsten Jahres mit dem Abitur zu beginnen.
Ich hatte noch nicht einmal ganz ausgeredet, da liefen Betina die Tränen nur so übers Gesicht. Es war jedoch deutlich zu erkennen, dass sie alles daran setzte, ihre Selbstbeherrschung nicht vollends zu verlieren. In diesem Moment stand sie direkt neben ihrer Mutter, die sie mit ihrem Unterarm stützte, als sie für einen kurzen Augenblick in sich zusammensackte.
Doch genauso schnell, wie dieser Gefühlsausbruch gekommen war, hatte sie ihre Fassung auch wiedererlangt, sodass wir die konkreten Maßnahmen besprechen und erste Termine festlegen konnten.
Ich habe so etwas wie Mitspracherecht in meinem Leben. Viele meiner ursprünglichen Vorstellungen sind berücksichtigt worden, wenn auch alles anders verlaufen ist als geplant. Als wir uns verabschiedeten, sagte Betina, dass sich ihr Leben anfühlt, als wäre sie in einem falschen Film gelandet, als hätte sie keinen sonderlichen Einfluss auf ihre Lebenssituation. Ich bin mir sicher, dass der Kleine Nazareno einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kann, dass Betina sich schon bald zur Hauptdarstellerin ihrer eigenen Geschichte verwandeln wird! Wir freuen uns, ihr dabei helfen zu dürfen!
Unterstützung der Kinder und Jugendlichen in der Armensiedlung „See der Geier“
Uns steht heute ein Katalog an konkreten Maßnahmen zur Verfügung, dessen einzelne Teile sich wie in einem Puzzlespiel perfekt zusammenfügen. Es geht mir bei unseren Besuchen um keine abstrakte Solidaritätsbekundungen, obwohl ich die Gespräche und die zum Teil sehr freundschaftlichen Beziehungen, die während unserer Aufenthalte in den Armensiedlungen entstehen, gar nicht schmähen und ihren Wert unterschätzen möchte. Es geht darum, insbesondere den Kindern und Jugendlichen, aber auch der ganzen Familie konkrete Hilfe anzubieten, um zu ermöglichen, dass sie ihr Leben positiv verändern und die aktuelle Notsituation besser meistern können, um sie dann vollends zu überwinden. Und so gehen wir in alle Baracken, eine nach der anderen und wenn wir es in einer Gasse an einem Tag nicht schaffen, dann machen wir am nächsten Tag dort weiter, wo wir aufgehört haben. Das ist unsere Arbeit, denn wie drückte es Dona Ana von einer anderen Gemeinde aus, als wir in ihre Notunterkunft hineintraten: „Ich dachte schon, dass sich kein Mensch für uns interessiert und dass wir unserem Schicksal allein übergeben sind!“
(Armensiedlung „Lagoa do Urubu“, übersetzt „See der Geier“)
Viele Familien warten oft stundenlang auf unseren Besuch. Jede Information, die wir erhalten, wird in einer eigens dafür entworfenen Datenbank festgehalten. Wir registrieren die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, wer nicht zur Schule geht, wer keine persönlichen Dokumente besitzt, wem wir eine Lehr- bzw. Arbeitsstelle vermitteln könnten, ob es in der Familie schwangere minderjährige Mädchen gibt oder Mütter, die ihre Söhne oder Töchter durch Mord oder Totschlag verloren haben.
Nach den Besuchen nimmt die eigentliche Arbeit erst richtig Fahrt auf: Welche staatlichen Stellen müssen aktiviert werden? In welchem Bereich können wir selbst helfen? Erst nachdem wir in einer Armensiedlung, die im Durchschnitt aus 100 bis 200 Familien besteht, die Datenerhebung abgeschlossen und die Einleitung der entsprechenden Hilfsmaßnahmen begonnen haben, können wir uns aufmachen, um erste Kontakte mit einer neu errichteten Armensiedlung zu knüpfen.
Derzeit begleiten wir die Familien aus zehn Gemeinden, die unter solch unangemessenen – um nicht zu sagen abscheulichen – Umständen leben. Es ist unnötig zu erwähnen, dass gerade die Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter solchen Lebensbedingungen besonders anfällig für die Anwerbung durch rivalisierende Drogenkartelle sind, die immer wieder neue Leute für ihre kriminellen Machenschaften ausnutzen.
Leider sind die Auswirkungen der Gewalt allgegenwärtig. Als Flaviana, Sozialarbeiterin des Kleinen Nazareno, in der Armensiedlung „Lagoa do Urubu“ die Jugendlichen zur ersten Versammlung einlud, stolperte sie beinahe über eine Blutlache vor einer Notunterkunft, wo in der Nacht zuvor ein uns bekannter Bewohner erschossen wurde.
(Versammlung neuer Mitglieder unseres Berufszentrums aus der „Lagoa do Urubu“ und Umgebung)
Erst nachdem die Versammlung am selben Morgen beendet und die neuen Mitglieder unseres Berufsvermittlungszentrums über die nächsten Schritte informiert worden waren, bat sie mich um eine kurze Auszeit, um wieder Kraft und Mut zu tanken.
Wenn ich persönlich bei den Hüttenbesuchen dabei bin, dauert es besonders lange, denn mich interessieren die Einzelheiten der jeweiligen Lebensgeschichten. So wie die von Samara, die seit über einem Jahr in einer Notunterkunft aus Sperrmüll zusammen mit ihrem Ehemann José und ihren vier Kindern lebt. Ich frage mich immer wieder, was passiert sein muss, damit jemand in eine solche Situation gerät.
Obwohl die Faktoren absolute Armut, Gewalt und Drogen immer wieder auftauchen, stelle ich auf der anderen Seite auch fest, dass es oft die fehlende Hilfe und Unterstützung war, die zum richtigen Zeitpunkt dazu hätte führen können, dass das Leben so vieler Menschen anders verlaufen wäre – und viele Grausamkeiten und menschlicher Schmerz hätten verhindert werden können.
Die Mutter von Samara hatte drei Söhne und neben Samara noch zwei weitere Töchter. Aufgrund ihrer starken Drogenabhängigkeit versuchte sie immer wieder, ihre Kinder anderweitig unterzubringen, und übergab sie sogar völlig unbekannten Menschen, um sich ihrer Sucht zu widmen. Es war Samaras Tante, die alle Kinder immer wieder einsammelte und zurück zur Mutter brachte – mit einer Ausnahme: Samaras kleine Schwester hat sie nie wieder gesehen.
(Flaviana und ich beim Besuch von Dona Samara aus der Gemeinde Lagoa do Urubu. Ihre älteste Tochter Samira steht direkt hinter ihrer Mutter.)
Doch es gab noch weitere Tragödien. Ihr älterer Bruder wurde kurz vor seinem 18. Geburtstag umgebracht. Ein anderer Bruder verbrachte fünf Jahre seines Lebens im Gefängnis. Als er entlassen wurde und vor dem Gefängnistor stand, wurde ein Attentat auf ihn verübt. Keine der zahlreichen Kugeln traf ihn, und er konnte sich ins Gebüsch retten. Dort kniete er nieder und gab unserem Herrgott das Versprechen, sein Leben von Grund auf zu ändern, sollte er überleben. Bis heute hat er Wort gehalten!
All dies waren einschneidende Erlebnisse, doch als Samara anfing, vom Tod ihrer Mutter zu erzählen, die mit 45 Jahren an den irreversiblen Folgen einer schweren Tuberkulose in ihren Armen verstarb, machte sie eine längere Pause. Sie versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen, und bemerkte dann: „Die Mutter ist eben die Mutter!“
Samara selbst wurde mit 13 Jahren das erste Mal schwanger – mit ihrer ältesten Tochter Samira, die heute 14 Jahre alt ist. Danach bekam sie noch zwei weitere Töchter und einen Sohn, der gerade acht Jahre alt ist. Ihr Ehemann strengt sich an, betont sie, doch als Tagelöhner auf dem Bau, ohne festes Arbeitsverhältnis, schafft er es nicht immer, genug Essen, Schulsachen oder andere Dinge für die Familie zu beschaffen.
An solchen Tagen ist Samara daran gewöhnt, zusammen mit ihren Kindern auf der Straße zu betteln. Besonders in der Weihnachtszeit bleibt sie stundenlang in der Nähe einer belebten Straßenkreuzung. Samira wartet dann, bis die Ampel rot wird, um den Fahrern, die sie meist ignorieren oder ihr altkluge Sprüche entgegnen, ein paar Groschen zu entlocken. „Einfach nur erniedrigend“, sagte sie uns, als unser Gespräch auf dieses Thema kam. Doch diese Zeiten sind vorbei, und sie und ihre Tochter Samira haben sich vorgenommen, nie wieder auf der Straße zu betteln.
Bei einer Feierlichkeit im Landtag im August dieses Jahres haben wir eine Zusammenarbeit zwischen dem Bildungsministerium des Bundeslandes Ceará und dem Kleinen Nazareno besiegelt, mit dem Ziel, jährlich 120 Jugendlichen ein bezahltes Praktikum im administrativen Bereich öffentlicher Schulen und Bildungseinrichtungen zu ermöglichen.
Bei der Besetzung dieser Stellen gibt es kein Aufnahmeverfahren wie bei den Geschäften und Betrieben, die uns insgesamt 220 Lehr- bzw. Arbeitsplätze für bedürftige Jugendliche bereitstellen. Als Samira, die an diesem neuen Programm teilnimmt, sich in der Rezeption einer Klinik anmeldete, um sich den gesetzlich vorgeschriebenen ärztlichen Untersuchungen zu unterziehen, wollte die zuständige Ärztin sie zunächst abwimmeln. Ihr Argument: Samira sei zu jung und zu klein, um zu arbeiten. Doch Samira antwortete schlagfertig: „Ich bin nicht zu jung, denn ab 14 Jahren ist es mir vom Gesetz her gestattet, zu arbeiten, vorausgesetzt, ich gehe weiterhin zur Schule. Und ich war auch nicht zu klein, um auf der Straße zu betteln – also bin ich bestimmt nicht zu klein, um durch meine eigene Arbeit Geld zu verdienen!“ Das hat gesessen!
Neben dem Versprechen, nie wieder auf der Straße zu betteln, hat Samira einen weiteren wichtigen Entschluss gefasst: „Ich möchte auch nicht mit 14 Jahren Mutter werden!“
(Samira, rechts im Bild, mit ihrer Mutter und zwei Geschwistern.)
Der Kleine Nazareno/Recife
Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Einblick in das Leben von Wellington und seine familiären Umstände schriftlich im Rahmen der diesjährigen Weihnachtsnachrichten festhalten sollte oder nicht. Am Ende habe ich mich entschlossen, darüber zu schreiben. So verstörend und traurig es auch ist, über das Leben und den Mord an einem Jungen, der gerade einmal 16 Jahre alt wurde, zu berichten – wir dürfen nicht zulassen, dass all diejenigen, die wir auf die eine oder andere Weise in ihrem viel zu kurzen Leben begleitet haben, in Vergessenheit geraten.
Für viele Familien in Recife, die völlig verarmt sind und nicht einmal in Erwägung ziehen können, ein noch so kleines und erbärmliches Häuschen zu mieten, bleibt nur eine Option: Wenn sie genug Holzpfähle im Sperrmüll finden, errichten sie ihre prekären Stelzhütten direkt über dem Wasser.
(Stelzhütten: Noch immer die traurige Realität für viele arme Familien in Brasilien im Jahr 2024.)
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Wellington, der jahrelang zusammen mit seiner Mutter und fünf Geschwistern unter katastrophalen hygienischen Umständen in einer winzigen Stelzhütte über dem Wasser des Capibaribe-Flusses lebte, tagsüber oft die öffentlichen Plätze in der Innenstadt von Recife aufsuchte. Besonders der Platz Maciel Pinheiro, nur wenige Minuten von seiner „Wohnstätte“ entfernt, hatte es ihm angetan. Benannt nach einem berühmten Journalisten, der sich im 19. Jahrhundert für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte, wurde der Platz erst im letzten Jahr renoviert. Heute sprudelt aus dem Springbrunnen neben der barocken Kirche, umgeben von uralten Bäumen, wieder klares Quellwasser.
Da sich dieser Platz nicht weit vom Büro unserer Filiale in Recife befindet und ein Treffpunkt für Kinder und Jugendliche ist, war es absehbar, dass wir Wellington früher oder später dort begegnen würden. Der erste Kontakt entstand während der ersten Monate der Pandemie. Direkt nach dem ersten „Hausbesuch“ schlugen wir vor, Wellington im Nazareno-Dorf Itamaracá aufzunehmen, da zu dieser Zeit auch die Schulen geschlossen waren. Doch Wellington verbrachte immer häufiger Nächte auf der Straße. Von Anfang an schnüffelte er Klebstoff – wie viele andere Kinder und Jugendliche, die längere Zeit auf der Straße in Recife leben.
(Wellington neben einem Streetworker des Kleinen Nazareno/Recife.)
Wellington hatte eine liebevolle Beziehung zu seiner Mutter. Besonders nachdem sein Vater wegen häuslicher Gewalt ins Gefängnis kam, fühlte er sich verpflichtet, sie zu unterstützen. Auch sein älterer Bruder saß zu dieser Zeit in einer Jugendhaftanstalt. Der Streetworker Severino vom Kleinen Nazareno/Recife erneuerte immer wieder unser Hilfsangebot, besuchte die Familie und baute eine enge Beziehung zu ihnen auf. Vor etwa anderthalb Jahren erhielt die Familie Wohngeldzuschüsse von der Stadt und konnte in ein einfaches Mietshaus umziehen.
Nach den schwierigen Jahren in der Stelzhütte konnten sie etwas aufatmen. Wellington und seine Geschwister gingen wieder zur Schule – auch wenn er oft schwänzte, um Zeit auf seinem Lieblingsplatz zu verbringen.
Seit der Gründung der nationalen Kampagne „Criança não é de rua“ erinnern wir jedes Jahr am 23. Juli an das Massaker von Rio de Janeiro, bei dem acht Straßenkinder im Alter zwischen 11 und 19 Jahren vor der Kirche Candelária erschossen wurden. In Recife fand die Protestaktion dieses Jahr auf dem Platz Maciel Pinheiro statt, und auch Wellington nahm daran teil. Nach der Aktion kehrte er, wie fast jeden Abend, zu seiner Mutter zurück. Doch am nächsten Tag entschied er sich, nach der Schule noch einmal zum Platz Maciel Pinheiro zu gehen. Bis heute ist unklar, warum jemand auf ihn zielte und schoss. Tatsache ist, dass um etwa 20 Uhr mehrere Kugeln seinen Brustkorb trafen und er auf der Stelle verstarb.
Seine Mutter kam völlig verstört am nächsten Morgen zu uns ins Büro. Severino begleitete sie zum Leichenschauhaus, wo sie ihren Sohn identifizierte. Unser Team half ihr bei den notwendigen Formalitäten und organisierte die Beerdigung, nachdem der Leichnam von der Rechtsmedizin freigegeben worden war.
Severino erzählte mir später am Telefon, dass in der kleinen Wohnung der Familie niemand im Zimmer von Wellington schlafen darf. Die Wände sind mit Fotos von ihm bedeckt. „Irgendwie hofft sie noch immer, dass ihr Sohn eines Tages wieder nach Hause kommt“, sagte er am Ende unseres Gesprächs.
Am anderen Ende der bunten Plastikdecke saß André, den auch Wellington gut kannte. Er war noch ein Baby, als seine Großmutter, die in einer kleinen Einzimmerwohnung mit fünf Enkelkindern lebte, ihn und seinen Bruder Henrique das erste Mal mit auf die Straße nahm. Mal bettelten sie zusammen, mal verkaufte die Großmutter Früchte und Gemüse auf der Straße.
Als Andrés Mutter ins Gefängnis kam, weil sie beim Drogenverkauf erwischt wurde, brach die Familie auseinander. André und sein Bruder Henrique übernachteten immer häufiger auf der Straße. Nach intensiver Überzeugungsarbeit lenkte André schließlich ein und beschloss, im Nazareno-Dorf Itamaracá zu wohnen.
(André, der vierte von rechts, bei seiner Ankunft im Nazareno-Dorf Itamaracá.)
Schweren Herzens verabschiedete er sich von Wellington und seinem Bruder. Henrique weigerte sich weiterhin, die Straße zu verlassen, obwohl wir das Jugendamt und andere zuständige Behörden eingeschaltet hatten.
Doch das änderte sich schlagartig, als Wellington Opfer der beschriebenen Gewalttat wurde. Henrique und die Familie wandten sich schließlich selbst an uns. Henrique hatte nun berechtigte Angst, dass auch er sein Leben verlieren könnte, wenn er auf der Straße bliebe. Unsere Anteilnahme gilt besonders der Mutter von Wellington. Bei meinem nächsteBesuch in unserer Filiale in Recife möchte ich sie persönlich kennenlernen und ihr sagen, wie sehr uns der Tod ihres Sohnes erschüttert hat. Es tut uns unendlich leid, dass wir nicht mehr für ihn tun konnten.
Kurznachrichten
Die „Mobile School“ ist in Fortaleza angekommen!
Wenn auch mit Verspätung, können wir seit einigen Monaten auf die nagelneue „Mobile School“ zurückgreifen – eine ausklappbare Tafel, gefüllt mit Lehrmaterialien und Brettspielen. Während eines einwöchigen Seminars in Fortaleza erklärten Vertreter des belgischen Vereins, der diese innovative Lernhilfe entwickelt hat, die einzelnen Bestandteile und gaben methodologische Tipps.
Seitdem sind wir mit der „mobilen Schule“ regelmäßig unterwegs. Ob auf der Straße oder in den Armenvierteln, die wir begleiten: Wo immer wir mit der Mobile School auftauchen, ziehen wir die Aufmerksamkeit der Kinder und Jugendlichen auf uns.
(Kinder aus einer Favela in Fortaleza bei der „Mobile School“.)
Unser Dank gilt dem belgischen Verein, der uns dieses Lernmaterial kostenlos zur Verfügung gestellt hat. Hunderte der enthaltenen Spiele mussten zunächst ins Portugiesische übersetzt werden – ein weiterer Beweis für die internationale Zusammenarbeit im Dienst der Bildung.
Sicherung der Eigenfinanzierung des Sport-zentrums vom Kleinen Nazareno/Maranguape
Maranguape, die Stadt, in der wir unser erstes Nazareno-Dorf errichteten, verzeichnete im letzten Jahr 91 Mordopfer – meist junge Menschen. Mit einer Tötungsrate von 74,2 Opfern pro 100.000 Einwohner zählt Maranguape zu den zehn gefährlichsten Städten Brasiliens.
(Feierliche Besiegelung der Zusammenarbeit mit der Stadt Maranguape durch Bürgermeister Átila Câmara.)
Es war keine große Überredungskunst nötig, um den Bürgermeister dazu zu bewegen, die Hin- und Rückfahrt für 200 Schülerinnen und Schüler aus acht öffentlichen Schulen viermal wöchentlich zu finanzieren. Dank der Unterstützung durch die Stadt und örtliche Unternehmen konnten wir die langfristige Finanzierung des Sportzentrums sichern, in dem wir Fußball, Volleyball und Breakdance unterrichten.
Fußball bleibt dabei die beliebteste Sportart – sowohl für Jungen als auch für Mädchen.
(Sportliche Aktivitäten im Sportzentrum des Kleinen Nazareno/Maranguape.)
Weihnachtsgruß von Bernardo
In seinem Buch „In einem anderen Land“ schrieb Ernest Hemingway: „Die Welt bricht ausnahmslos alle. Aber einige sind an den Stellen, an denen sie gebrochen sind, stärker als vorher.“
Letztlich entscheidet jeder selbst, welchen Weg er einschlagen möchte. Wir können die Kinder und Jugendlichen auf ihrem Weg begleiten, aber wir können nicht verhindern, dass sie manchmal falsche Entscheidungen treffen – Entscheidungen, die ihr Leben gefährden oder sogar beenden könnten.
Doch das bedeutet nicht, dass wir nichts tun sollten. Wir können den Kindern und Jugendlichen in den Armenvierteln und auf der Straße Gelegenheiten eröffnen, die sie ohne unsere Hilfe nicht hätten.
Eure Unterstützung macht es uns möglich, den Menschen in ihrer Not konkrete Hilfe anzubieten. Jeder Jugendliche, der wie Ruan aus den tristen Gassen einer Armensiedlung mit dem T-Shirt des Kleinen Nazareno auf dem Weg zu seiner bezahlten Praktikumsstelle ist, erfüllt mich mit unbeschreiblicher Freude und Dankbarkeit.
Auch der junge Vinicius, der heute Rechtswissenschaft an einer privaten Universität studiert, hätte sich sein Glück wohl niemals erträumt. Und ich hätte mir nicht träumen lassen, dass die Organisation, die mein Bruder Werner in Deutschland und ich in Brasilien vor Jahrzehnten gegründet haben, einmal so viele Kinder, Jugendliche und Familien unterstützen könnte.
(Hoffnung auf eine bessere Zukunft: Ruan aus dem Armenviertel Lagoa do Urubu, 14 Jahre.)
Der Fuchs aus „Der kleine Prinz“ sagt: „Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“ Die Gewissheit, dass es Menschen in Deutschland gibt, die unsere Arbeit unterstützen, hat mir die notwendige Sicherheit gegeben, langfristige Verantwortung zu übernehmen – ohne je ans Aufgeben zu denken.
Meinem Bruder Werner, den Mitgliedern des Vereins in Deutschland und euch allen: Vielen herzlichen Dank für alles und eine frohe, gesegnete Weihnachtszeit!
Euer Bernardo,
Gründer der Organisation „Der Kleine Nazareno/Brasilien“